Anlässlich des 110. Geburtstages des Phonogrammarchivs fasste Rudolf M. Brandl, damals Direktor des Phonogrammarchivs, den Entschluss, einen periodisch erscheinenden Sammelband, das Jahrbuch des Phonogrammarchivs, ins Leben zu rufen, das 2010 zum ersten Mal erschien. Die inhaltliche Ausrichtung schließt sowohl Beiträge zur Technik, wie Aufnahmetechnik, Langzeitbewahrung oder Re-Recording, als auch zu inhaltlichen Auswertungen der Sammlungsbestände und Diskursen von Feldforschungsmethoden mit ein. Entsprechend der internationalen Vernetzung des Phonogrammarchivs bietet das Jahrbuch somit eine Plattform für den Gedankenaustausch zu diesen Themen im Kreise internationaler Spezialist/inn/en. Die Beiträge stammen von Mitarbeiter/inn/en des Phonogrammarchivs sowie Kooperationspartner/inn/en (Deponent/inn/en) und internationalen Forscher/inn/en, die mit dem Phonogrammarchiv in Kontakt stehen.
Im April 2019 fand an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften das Symposium „Nicht ungehört verhallen – 120 Jahre Phonogrammarchiv“ statt. Das Jahrbuch 10 bietet nun schriftliche Fassungen eines Großteils der vielfältigen Beiträge (mit Abstracts auf Deutsch und Englisch). Nach einer Einführung durch die neue Archivleiterin (K. Klenke), dem wissenschaftshistorischen Hauptvortrag von S. Klotz sowie der künstlerischen Intervention (Hörstück von K. Tiwald), widmen sich K. Abromeit, O. Danner und J. Spitzbart technischen Themen (Restaurierung, Lichttonabtastung, digitale Langzeitbewahrung). B. Alge und G. Fartacek beschäftigen sich mit Forschungsdatenmanagement und methodisch-methodologischen Herausforderungen in der Feldforschung, gefolgt von Beiträgen zur Sammlung Quellmalz (Th. Nußbaumer) und zum Korpus „Österreichische Dialektaufnahmen im 20. Jahrhundert“ (A. Lenz et al.). „Africa’s Collective Memory“ und Outreach-Strategien im postkolonialen Kontext stehen schließlich im Mittelpunkt der Ausführungen von Prince Kum’a Ndumbe III und A. Schmidhofer.
KEYNOTE. Klänge als Erkenntnisquelle: Phonogramm-Archive in der Wissensgesellschaft
Phonogramm-Archive sind als besondere Ressourcen der Wissensgesellschaft zu betrachten. In ihnen sind musikalische Praxen verschiedener Kulturen in besonderer Weise dokumentiert. Sie können als Heterotope gelten, weil sich in ihnen musikalisch-akustische Spuren ablagern, die quer zur üblichen Produktion und Verbreitung von Audio-Aufnahmen stehen. Diese historisch gewachsenen Archive transportieren ein Wissen, das in doppelter Optik untersucht wird: Im Hinblick auf die Forschungshorizonte der Entstehungszeit und in historisierender Perspektive, welche die phonographischen Aufnahmesituationen als exemplarische kulturelle Situationen in breite Kontexte einbettet. Für das Wiener Phonogrammarchiv wird eine Offenheit für Fluktuationen als konzeptionell-methodischer Anhaltspunkt um 1900 herausgearbeitet. In der hochtechnischen Mediengesellschaft der Gegenwart stellen Phonogramm- Archive und die in ihnen dokumentierten musikalisch-sprachlichen Praxen stets auch einen Schlüssel zum Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge und Selbstbilder dar. Sie reichen damit weit über eine rein fachspezifische Relevanz hinaus, da Klänge vieldimensionale Erkenntnisquellen sind.
Schlagworte: Audio-Heterotope, Sensible Sammlungen, Transformative Objekte, Fluktuationen, Experimentalisierung des Lebens
Die Restaurierung von versprödeten, mit Schimmelpilz kontaminierten Magnettonbändern des deutschen Reichsrundfunks
Der Arbeitsbericht stellt die manuelle Restaurierung von 43 Magnettonbändern auf Celluloseacetat-Basis aus dem Bestand „Maghreb“ des Deutschen Rundfunkarchivs vor. Sie sind besondere Zeugnisse des nationalsozialistischen Auslandsrundfunks aus den frühen 1940er-Jahren. Enthalten ist propagandistisch gefärbtes Unterhaltungsprogramm für das nordafrikanische und arabische Zielpublikum. Der Fokus der Präsentation liegt auf der Reinigung, der Zusammenfügung und Spielbarmachung dieser stark verunreinigten und teils brüchigen Tonbänder vom ersten produktreifen Tonbandtyp, dem Typ C der BASF (IG Farben). Untersuchungsergebnisse einer Masterarbeit zum Thema werden einbezogen.
Historische und moderne Methoden der Lichttonabtastung
Ende der 1920er-Jahre begann man neben den einzelnen Bildern eines Films auf fotografische Weise auch eine Tonspur aufzuzeichnen. Heute, etwa 90 Jahre später, ist das Lichttonverfahren aus den Distributionswegen der Lichtspielindustrie weitestgehend verschwunden, jedoch befinden sich noch tausende Filmrollen in den Archiven, mit oft einzigartigen Inhalten im Lichttonformat. Im Zuge der Erhaltung dieser Tonspuren stellen sich heute oft Fragen wie: Welche Möglichkeiten zur Extraktion der auditiven Inhalte gibt es heute? Wie hat sich die Wiedergabetechnik und die auditive Charakteristik mit der Zeit verändert? Worin liegen die Herausforderungen für die Restaurierung eines authentischen Hörerlebnisses? Anfang 2015 ging Oliver Danner diesen Fragen in seiner Masterarbeit an der HTW Berlin nach.
Digitale Langzeitbewahrung: Die Problematik der Formatmigration am Beispiel der ersten Videobestände des Phonogrammarchivs
Die digitale Langzeitbewahrung audio-visueller Aufnahmen erfordert nicht nur den Erhalt der Integrität der Daten, sondern auch den Erhalt der Abspielbarkeit und Weiterverarbeitung mittels gängiger und zukünftiger Computersysteme. Mitunter ist es also notwendig, die Daten in ein neues Format zu migrieren, ohne Qualität bzw. Informationen zu verlieren. Diese Problematik wird am Beispiel der ersten Videobestände des Phonogrammarchivs, die in einem proprietären (und mittlerweile obsoleten) Format archiviert wurden, praxisnah dargestellt und eine Lösung präsentiert, die zusätzliche Vorteile bringt.
Im Spannungsfeld zwischen Ethnographie und Forschungsdatenmanagement
In diesem Beitrag stellt die Verfasserin Überlegungen zur Verwaltung ihrer Feldforschungsaufnahmen vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen zu Forschungsdatenmanagement an. Unter Verwaltung wird dabei nicht nur der Schritt der Speicherung und Archivierung verstanden, sondern diese beginnt bei der Aufnahme selbst und reicht bis zur Veröffentlichung in Form von Ethnographien als Text. Das Mitdenken der Verwaltung von audiovisuellen „Daten“ beeinflusst, so argumentiert die Verfasserin, die Sammlung des ethnographischen Materials selbst. Während sich der Datenbegriff auf alles bezieht, was in einem Zeichensystem dargestellt werden kann, geht ethnographisches Material über die Aufzeichnung hinaus, indem es auch gelebte Erfahrung und menschliche Interaktion beinhaltet. Fragen nach der „Verwaltung“ dieser Interaktion stellen sich besonders hinsichtlich ethischer Verantwortung im Feld. Neben den Vor- und Nachteilen, die Forschungsdatenmanagement für ethnographisch Arbeitende mit sich bringt, diskutiert der Beitrag auch das Potenzial von Repositorien.
Sensible Forschungssituation und Potenzial: Narrative Interviews mit syrischen Kriegsflüchtlingen aus methodischer und methodologischer Perspektive
Der vorliegende Beitrag widmet sich methodischen und methodologischen Herausforderungen im Kontext biographisch-narrativer Interviews mit Geflüchteten. Die empirische Basis bilden zwei sozialanthropologische Forschungsprojekte, die seit 2015 bzw. seit 2016 am Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften angesiedelt sind. Darauf Bezug nehmend werden potenzielle Problembereiche und Risiken, aber auch Chancen und künftige Forschungspotenziale analysiert, die sich (1.) für die Geflüchteten und deren Angehörige, (2.) für die Forscherinnen und Forscher, sowie (3.) für akademische Institutionen ergeben (können). Im Fokus dieses Artikels stehen dabei Fragen der Datenerfassung sowie der Datenarchivierung und des Forschungsdatenmanagements an wissenschaftlichen Tonarchiven. Den Abschluss bilden Überlegungen zur partizipativen Mitgestaltung des Forschungsprozesses durch Angehörige aus den Untersuchungsgruppen.
Schlagworte: Kultur- und Sozialanthropologie, ethnologische Feldforschungsmethoden, Forschungsdatenmanagement, Flüchtlingsforschung, Syrien
Die Südtiroler Volksmusiktonaufnahmen von Alfred Quellmalz im Spannungsfeld von Ideologie, Wissenschaft und Volkskulturpflege
Die historischen Tonbänder der Südtirolsammlung von Alfred Quellmalz enthalten rund 3.000 Magnetophonaufnahmen von Volksmusik aus den Jahren 1940–1942 und wurden zwischen September 2005 und Januar 2007 am Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien digitalisiert. Die Sammlung, an der rund 900 Gewährsleute mitwirkten, bleibt, wenngleich eine Pionierleistung der Aufnahmetechnik „im Feld“, aufgrund ihrer Entstehungshintergründe (das SS-Ahnenerbe als Auftraggeber, die Option und Umsiedlung in Südtirol als Anlass) in der Fachliteratur umstritten. Doch kann man die Sammlung nicht auf die NS-ideologischen Vorgaben der Auftraggeber alleine reduzieren, da auch das damals gängige volkskundliche Fachverständnis Quellmalz’ Arbeit prägte. Bei differenzierter Betrachtung und Verwendung seiner Aufzeichnungen ist die Sammlung für die historische Volksmusikforschung von beträchtlichem Wert. Auch spielt sie in der gegenwärtigen Volksmusikpflege in Südtirol aufgrund ihres umfangreichen Repertoires an älterer Volksmusik eine wichtige Rolle.
Schlagworte: Volksmusikforschung, Nationalsozialismus, Südtirol, Geschichte der musikalischen Feldforschung, Alfred Quellmalz
„Österreichische Dialektaufnahmen im 20. Jahrhundert“ – Zur Genese, Aufbereitung und wissenschaftlichen Nutzung eines einmaligen Sprachkorpus
Der Beitrag präsentiert ein Kooperationsprojekt der Forschungsabteilung „Variation und Wandel des Deutschen in Österreich“ (VaWaDiÖ) (ACDHÖAW) mit dem Phonogrammarchiv (PhA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Im Fokus dieses Projekts steht die Aufbereitung des Korpus „Österreichische Dialektaufnahmen im 20. Jahrhundert“, dessen Aufnahmen (auf Magnetband) die (basis)dialektalen Varietäten des 20. Jahrhunderts in Österreich repräsentieren. Im Rahmen des Projekts wird das Ton- und Dokumentationsmaterial erstmals vollständig digitalisiert und erschlossen. Der Beitrag geht auf den Wert dieser einmaligen Daten gerade für die sprachwissenschaftliche Forschung ein.
Selbstfindung durch „Africa’s Collective Memory“: Technik der Aufnahme, bedrohte Aufbewahrung und Sprachenvielfalt – Verzögerung auf dem Weg zur internationalen Öffentlichkeit
Wie kann man in den Jahren 1981–1986 noch afrikanische Zeitzeugen der deutschen Kolonialzeit, einer Epoche, die schon 1919 zu Ende ging, finden und aufnehmen? Und wenn übermäßige Feuchtigkeit nach über dreißig Jahren die Aufnahmen, die in mehr als zwanzig einheimischen afrikanischen/ kamerunischen Sprachen aufgezeichnet wurden, unhörbar macht, wie kommt man überhaupt zu einer Transkription? Und dann: Wie können diese 176 afrikanischen Zeitzeugen als Quelle für die internationale Forschungswelt und Öffentlichkeit überhaupt zur Verfügung gestellt werden? Der Beitrag versucht, Antwortansätze zu diesen Fragen zu bringen.
Schlagworte: kamerunische Zeitzeugen, bedrohte afrikanische Sprachen, neue Geschichtsschreibung, Perspektive der Kolonialisierten, Afrikas kollektives Gedächtnis, Selbstfindung des Afrikaners
Outreach-Strategien von audiovisuellen, ethnologischen Beständen im postkolonialen Kontext
Audiovisuelle Aufnahmen, wie sie in den Phonogrammarchiven aufbewahrt werden, sind häufig im Rahmen wissenschaftlicher Projekte entstanden und nur selten über die wissenschaftliche Gemeinde hinaus bekannt und verfügbar gemacht worden. Seit dem Aufkommen der Open-Access-Bewegung jedoch haben Schallarchive begonnen, Teile ihrer Bestände online zugänglich zu machen. Konsequenzen ergaben sich zudem aus den Diskursen um Postkolonialismus und Dekolonisierung und haben zu Repatriierungen in die Länder, aus denen die Aufnahmen stammen, geführt. Ungeachtet der hier und da erfolgreich beschrittenen Wege des Umgangs mit den neuen (Heraus-)Forderungen bleiben Fragen offen und Probleme bestehen, besonders im Bereich der Rechte. Viele Archivbestände sind mit dem Manko behaftet, dass die Urheber_innen von Melodien oder Texten nicht erhoben wurden, war man doch häufig von kollektiver Schöpfung und Weitergabe von Generation zu Generation ausgegangen. Da die Rechte der Autor_innen und Musiker_innen somit in vielen Fällen ungeklärt sind, ist die Weitergabe und Veröffentlichung solcher Aufnahmen problematisch.
Schlagworte: Repatriierung, Open Access, Dekolonisation, Autorenrecht, Madagaskar