Geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Anzeiger ‒ Zeitschrift der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 155. Jahrgang (2020)
Geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Anzeiger ‒ Zeitschrift der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 155. Jahrgang (2020)
Der „Geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Anzeiger“ (vormals: „Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse“) bringt Beiträge aus dem gesamten Spektrum der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften und erscheint jährlich in zwei Heften.
Ausgehend von der auf Autopsie beruhenden Neulesung der römischen Inschrift auf dem Altar RLM Trier-Inv. ST 9722 mit antikem Opferstock, untersucht Patrizia de Bernardo Stempel im ersten Beitrag des vorliegenden Doppelhefts sowohl den Beinamen Lenos des römischen Gottes Mars wie auch die Namen des Stifters und des Empfängers bzw. der Empfänger der Parallelwidmung. Ebenfalls erläutert werden die anderen Anrufungen des Gottes Mars in derselben Gegend sowie die Namen der mit ihm vergesellschafteten weiblichen Gottheiten. – Eine lang bekannte, aber erst 2020 publizierte „Bauinschrift“ aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. aus Epidauros berichtet über Verhängung von Geldbußen und Einnahmen von Geldzahlungen. Sie erfährt im Beitrag von Gerhard Thür einen juristischen Kommentar. Bisher war nicht bekannt, dass die archaischen Rechtseinrichtungen der Hausdurchsuchung und des Reinigungseides in hellenistischer Zeit noch praktiziert wurden, wenn auch in modernisierter Form. – 101 Jahre nach der Gründung der ÖAW wurde die Physikerin Lise Meitner im Jahr 1948 als erstes weibliches Mitglied in die Akademie aufgenommen. Erst 1974 wurde die zehnte Frau in die Akademie gewählt. Diesen ersten zehn weiblichen Mitgliedern, ihren Biographien, ihren Möglichkeiten und Ausschlüssen widmet sich der dritte Beitrag, „Frauenkarrieren in der Männerwelt“, von Veronika Duma.
Lateinisch lēnos, lēnior, lēnissimus ‘mild’, der heilende Mars und die vermeintlichen Xvlsigiae in Trier
Ausgehend von der auf Autopsie beruhenden Neulesung der römischen Inschrift auf dem Altar RLM Trier-Inv. ST 9722 mit antikem Opferstock, untersucht dieser Beitrag sowohl den Beinamen Lenos des römischen Gottes Mars wie auch die Namen des Stifters und des Empfängers bzw. der Empfänger der Parallelwidmung. Ebenfalls erläutert werden die anderen Anrufungen des Gottes Mars in derselben Gegend sowie die Namen der mit ihm vergesellschafteten weiblichen Gottheiten. Entgegen der bisher traditionellen Auffassung wird der erste Beiname als die ohnehin postulierte, ursprüngliche thematische Form des lateinischen Adjektivs lēnis erkannt, die nicht zuletzt auch in der gallischen Personennamengebung vertreten ist. Das zwar in der Endung latinisierte Cognomen Diseto des Stifters scheint eigentlich keltischsprachig gewesen zu sein, und der Name des zweiten Empfängers wird nicht länger als **Xulsigiae, sondern als decem Vulsigii oder vielmehr decem Vulsigiae verstanden, vermutlich aus einem germanischen Substantiv der Bedeutung ‘Ruhm’ abgeleitet. Ferner wird die Aufmerksamkeit der Leser auf die Existenz asymmetrischer Votivformulare gelenkt, in denen also nicht alle Empfänger göttlich sind und von denen das Exemplar auf dem Trierer Altar ein Beispiel sein könnte.
Prozessrechtlicher Kommentar zur „Strafstele“ aus Epidauros, ca. 360, ca. 355 und nach 338 v. Chr.
Eine lang bekannte, aber erst 2020 publizierte „Bauinschrift“ aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. berichtet über Verhängung von Geldbußen und Einnahmen von Geldzahlungen. Sie erfährt im vorliegenden Beitrag einen juristischen Kommentar. Neue Erkenntnisse bringt der Fall des Elfenbeinschnitzers Pasiteles aus Hermione: Er wird wegen Diebstahls des Materials verklagt, Amtsträger aus Epidauros stellen eine Hausdurchsuchung in seiner Heimatpolis an, eine Gerichtsversammlung fällt ein „Beweisurteil“, wonach er sich freischwören könne, er flieht aus Epidauros, schließlich wird sein dort greifbares Vermögen beschlagnahmt und versteigert; der Rest der nicht einbringlichen Bußzahlung wird nach ca. 20 Jahren bei seinem Sohn in Hermione eingetrieben. Bisher war nicht bekannt, dass die archaischen Rechtseinrichtungen der Hausdurchsuchung und des Reinigungseides in hellenistischer Zeit noch praktiziert wurden, wenn auch in modernisierter Form.
Schlagworte: Antikes Prozessrecht, Diebstahl, Hausdurchsuchung, Reinigungseid, Vollstreckung von Geldbußen
Frauenkarrieren in der Männerwelt: Möglichkeiten, Ausschlüsse und Vertreibung. Zu den ersten zehn weiblichen Mitgliedern der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Der Artikel fragt nach den ersten zehn weiblichen Mitgliedern der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die als Frauen Pionierinnen im männlich dominierten Feld der Wissenschaft waren. Die entscheidenden Wahlen, die im Zeitraum von 1948 bis 1974 stattfanden, werden in ihrem institutionellen und gesellschaftspolitischen Kontext untersucht. Die wissenschaftlichen Arbeiten der Frauen werden besprochen und wissenschaftshistorisch eingeordnet. Entwicklungen innerhalb des Wissenschaftsbetriebes werden ebenso beleuchtet wie die Biografien der Forscherinnen. Ihre Karriereverläufe waren in unterschiedlicher Art und Weise von Geschlechterverhältnissen, Rassismus und Antisemitismus geprägt. Während einige der Wissenschaftlerinnen im Nationalsozialismus ihre Laufbahn fortsetzten und ausbauen konnten, mussten als Jüdinnen verfolgte Frauen ihren Arbeitsplatz und das Land verlassen. Erörtert wird die Rolle von Frauen sowie die Thematisierung von Geschlechterverhältnissen in der Akademie. Der Blick wird dabei sowohl auf die Entwicklungen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen als auch in den philosophischhistorischen Fächern gelegt, die sich durch unterschiedliche Dynamiken hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse auszeichneten. Die Arbeit basiert auf Archivrecherchen, insbesondere auf Materialien des Archivs der ÖAW.
Schlagworte: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wissenschaftsgeschichte, Geschlechterverhältnisse, Wissenschaftlerinnen, Pionierinnen