Als Jahresband 2022 publiziert „Sprachkunst“ neue Annäherungen an Gedichte Paul Celans. Bernd Auerochs, Christoph Grube und Markus Ohlenroth, Christine Frank, Irene Fußl, Camilla Miglio sowie Lydia Koelle arbeiten gegen den Anschein der Hermetik der Gedichte jeweils einen möglichen Dialog mit der Leserin oder dem Leser heraus und betonen zugleich die radikale Offenheit und grundsätzliche Unabschließbarkeit der Lektüre. Dabei stellt sich immer wieder die prinzipielle Frage, wie wichtig Kontextinformationen für das Verständnis der Gedichte sind: Einige Annäherungen relativieren den unreflektierten Rekurs bisheriger Interpretationen auf das Leben Celans. Andere rekonstruieren den Bezug Celans auf Hölderlin, die Analogie von Celans sprachlichen Kompositionsweisen mit solchen der Musik oder seine Begegnung mit dem Isenheimer Altar. Eine weitere solche Rekonstruktion schließlich zielt auf die scheinbar ganz ‚äußerlichen‘, publizistischen Kontexte in Nachkriegsdeutschland, in denen ein Gedicht Celans abgedruckt worden ist.
Abgeschlossen wird der Band durch Rezensionen zu den jüngst von Johann Georg Lughofer herausgegebenen Celan-Interpretationen, zu Helmut Böttigers Darstellung der Beziehung von Ingeborg Bachmann und Paul Celan sowie zu einem englisch- und einem französischsprachigen Sammelband („Paul Celan Today“ und „Cahier Paul Celan“).
Wie viele andere Gedichte Celans ist auch "Engführung" (aus dem Band "Sprachgitter" von 1959) bislang nicht unter dem Aspekt der Zugehörigkeit zu einer bestimmten lyrischen Gattung in den Blick genommen worden. Der Beitrag zeigt die Relevanz der Gattungsnormen der pindarischen Ode für "Engführung" auf und erläutert sie, indem er Hölderlins späte Hymne "Patmos" als Prätext für "Engführung" untersucht.
Plädoyer für ein alternatives Lesen. Überlegungen zu den ersten beiden Gedichten aus Paul Celans Gedichtband "Von Schwelle zu Schwelle"
Ist es möglich, Gedichte Celans aus sich heraus zu verstehen, ohne die Sekundärliteratur heranzuziehen und ohne auf Celans Biographie und die Shoa zurückzugreifen? Der Artikel erprobt an den ersten beiden Gedichten "Ich hörte sagen" und "Im Spätrot" aus dem Band "Von Schwelle zu Schwelle" eine solche Lektüre. Über die Analyse von bei der Komposition eingesetzten formalästhetischen Mitteln, durch Herausarbeitung der verwendeten Motive in ihren Beziehungen zueinander wird ein Handlungsablauf erkennbar und damit eine Deutung möglich, die das ganze Gedicht einbezieht und sich nicht nur – wie häufig in der Sekundärliteratur – auf die Interpretation einzelner Motive beschränkt.
Heimkehr, wieder und wieder. Kontextualisierendes Lesen
Celans Gedicht "Heimkehr" aus dem Band "Sprachgitter" (1959) wurde aller Wahrscheinlichkeit nach ohne sein Wissen zweimal, 1963 und 1968, in "Westermanns Monatsheften" wieder abgedruckt in Kontexten, die das im Gedicht Gesagte aus heutiger Sicht geradezu subvertieren. Anhand dieses Beispiels wird kontextualisierendes Lesen als Möglichkeit diskutiert, das Gedicht nicht allein in den „Lebenszusammenhängen“ zu lesen, denen es seine Entstehung verdankt, sondern auch die Zeugnisse seiner Rezeption zu entziffern.
"Cello-Einsatz" / von hinter dem Schmerz. Versuch einer „Begegnung“ mit Paul Celans Klagelied
Dieser Beitrag versucht eine „Begegnung“ mit Celans Gedicht "Cello-Einsatz" zu ermöglichen und es als Begegnungsraum mit Werken von Antonin Dvořák, Ingeborg Bachmann und Nelly Sachs zu lesen. Erschließen sich einige Teile des Textes über intermediale und intertextuelle Bezüge, so eröffnen sich in den hermetischeren Passagen Denkräume über das von Celan ausgewählte Vokabular und die Verbindungslinien zu anderen Texten seines Werks. Ziel ist es, der Hermetik des Gedichts mit dem Aufzeigen verschiedener Lesemöglichkeiten auf unterschiedlichen Ebenen des Verstehens, die einander nicht ausschließen, zu begegnen.
Motette für eine Stimmenarche. Eine Lektüre von "Stimmen"
Der Zyklus "Stimmen" wird als Partitur einer achtstimmigen, polytextuellen Motette gelesen. Diese Arbeitshypothese versucht eine nicht-lineare Lektüre des dadurch entstehenden mehrdimensionalen, simultanen Klangraums. Widerstand und Rettung, organische und anorganische Materie, individuelle und kollektiv-historische Mnestik, Stimmen und Nicht-Stimme werden alle zugleich „namentlich“ in einer dissonanten Verklammerung besungen und rekapituliert.
Grenzgänge „im Schatten des Wundenmals“. Paul Celan in Colmar, 25. März 1970
Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht Paul Celans Besuch des Isenheimer Altars in Colmar, wo er im März 1970, wenige Wochen vor seinem Tod, lange vor dem Kreuzigungsbild verweilte. Neben dem biographischen Kontext (Hölderlin-Feier, Stuttgart) gehe ich der Frage nach, wie die Colmar-Erfahrung mit Celans Gedicht "Tenebrae" in Beziehung steht. Die Studie folgt Celans Interesse an dem Passions-Motiv in seinen Gedichten und Lektüren und zeigt ihn als jüdischen Counterpart in Wolfgang Rihms Komposition "DEUS PASSUS" (1999/2000).
Johann Georg Lughofer (Hrsg.), Paul Celan. Interpretationen. Kommentare. Didaktisierungen (= Ljurik – Internationale Lyriktage der Germanistik Ljubljana; Band 9)
Paul Celan. Études réunies par Clément Fradin, Bertrand Badiou et Werner Wögerbauer (= Les Cahiers de l’Herne; No 130). Paul Celan Today. A Companion, ed. by Michael Eskin, Karen Leeder and Marko Pajević (= Companions to Contemporary German Culture; vol. 10)