Diese Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, für die nach mehr als einem Jahrhundert intensiver philologischer Debatte immer noch ungeklärte „Cirisfrage“ eine plausible Lösung anzubieten. Nach so langer Zeit kann als (fast) allgemein akzeptiert nämlich lediglich gelten, dass das schon in der Suetonvita Vergil zugeschriebene neoterische Epyllion über die leidenschaftliche, letztlich verhängnisvolle Liebe der Scylla zum Landesfeind Minos nicht von diesem Dichter stammt. Die bislang für das Werk vorgeschlagenen Datierungen reichen von der Mitte des ersten vorchristlichen bis ins dritte nachchristliche Jahrhundert, ein Befund, der eine neuerliche, gründliche Behandlung dieses Problems herausfordert. Die alleinige Grundlage chronologischer Aussagen können auch in dieser Arbeit nur die zahlreichen Textparallelen zwischen der Ciris und einer großen Zahl anderer Autoren bilden. Im Vergleich mit den vorliegenden Cirisstudien werden hier aber zusätzlich bislang unbeachtete Cirisparallelen bei Vergil und Ovid sowie auch Vergleichsstellen bei Horaz, Tibull und Properz, in Catalepton 9 und im Panegyricus Messalae zeitlich ausgewertet. Prioritätsentscheidungen werden nicht nur nach den traditionellen Kriterien getroffen, sondern auch und vor allem anhand einer Reihe vorwiegend formaler Phänomene, die der Verfasser bei der jahrelangen Analyse von Similienpaaren mit von Haus aus sicherer Dependenz als auffallend häufige Erscheinungen just an Sekundärstellen ermittelt und in der Folge auch schon zur Klärung fraglicher Prioritätslagen herangezogen hat. Die Erweiterung des untersuchten Referenzmaterials und dessen Bewertung auch mithilfe dieser neuen, objektiven Kriterien sollte dem erzielten Ergebnis hinlängliche Sicherheit verleihen: Die Ciris ist zweifellos ein Produkt der augusteischen Epoche, dessen Autor niemand Geringerer als Asinius Pollio sein dürfte.